Franz Kafkas Briefe an Milena Jesenská aus Meran[1]

 

Daseinsanalytische Bemerkungen zur Geschichte einer Öffnung 

Sie zählen zu den berühmtesten Liebesbriefen der Weltliteratur, Franz Kafkas „Briefe an Milena“[2] Jesenská. Den ersten Teil davon, etwas über dreißig Briefe, schrieb Kafka im Frühjahr 1920, als er fast drei Monate in der Südtiroler Stadt verbrachte, um im milden Klima eine Besserung seiner Lungen-Tuberkulose zu erreichen, denn zu Hause erwartete man von diesem Kuraufenthalt so „etwas wie annähernde Gesundung“[3]. Am Anfang dieser Zeit nahm er wieder einmal Kontakt mit seiner in Wien lebenden Übersetzerin ins Tschechische, Milena Jesenská, auf, wohl auch um sich mit Briefeschreiben die Zeit zu vertreiben. Nach anfänglichem Zögern Milena Jesenskás entwickelte sich ein reger Briefwechsel, in dessen Verlauf Franz Kafka, zumindest anfangs, eine Befreiung erfuhr, die etwas in seinem Leben völlig Neues darstellte. Der zurückgezogene, einsame Franz Kafka öffnete sich einem Menschen, öffnete sich einer Frau. Im vorliegenden Text werde ich versuchen, anhand einer Auswahl von Briefstellen dem Phänomen dieser Öffnung nachzugehen und dabei auch die Daseinsanalyse zu Wort kommen zu lassen. 

Franz Kafkas Welt

Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen? Und tausendmal lieber zerreißen als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.[4]

Kafkas Welt war besonders groß, teilen konnte er sie aber mit niemandem so recht, nur mittels der Literatur und der Sprache war es ihm möglich, so etwas wie Befreiung zu erleben und sich mitzuteilen. Anderen Menschen gegenüber aber wurde er immer distanzierter. Nur mit wenigen, zum Beispiel seiner Schwester Ottla und seinem Freund Max Brod pflegte er engeren Kontakt. Das In-der-Welt-sein mit Anderen war für ihn schon immer schwierig gewesen, so hatte er sich, beherrscht von Lebensangst und Schuldgefühlen, mehr und mehr verschlossen. In seinem im November 1919, also weniger als ein halbes Jahr vor dem Briefwechsel mit Milena Jesenská, verfassten „Brief an den Vater“ finden sich viele Hinweise darauf, wie er selbst die Gründe für diesen Rückzug reflektierte, er bezeichnet sich zum Beispiel dort als ein „vor lauter Ängstlichkeit übergenau beobachtendes Kind“[5].

Wie sieht das Leben Franz Kafkas aus, als er im April 1920 an Milena Jesenská zu schreiben beginnt? Wo steht er? Im Februar 1920, noch in Prag, notierte er einen Text in sein Tagebuch, der vom Betrachter eines Gemäldes erzählt, der sich vorstellt, wie er sich in diese Szene hineinversetzen und an dem dargestellten fröhlichen Treiben teilnehmen könnte. Dabei stellt er fest, dass das unmöglich sei. Die letzten Sätze lauten:

„[…] So weit war er also von diesen Ausflüglern, aber damit doch auch wieder sehr nahe und das war das schwerer Begreifliche.

Sie waren doch auch Menschen wie er, nichts Menschliches konnte ihnen völlig fremd sein, würde man sie also durchforschen müßte man finden, daß das Gefühl, das ihn beherrschte und ihn von der Wasserfahrt ausschloß, auch in ihnen lebte, nur daß es allerdings weit davon entfernt war sie zu beherrschen, sondern nur irgendwo in dunklen Winkeln geisterte.[6]

Immer wieder begegnet uns in Kafkas Lebensäußerungen eine enorme Einsamkeit, die neben seinem Leiden und seiner Angst durchaus auch die Facette einer bewussten Vereinzelung aufweist. Eine Vereinzelung, durch die er sich zurück zu nehmen scheint aus dem Alltäglichen und gerade dadurch offen wird für das, was sich ihm zeigt und wofür er in einzigartiger Weise sprachlichen Ausdruck findet. Diese Vereinzelung ist jedoch auch die Folge seiner großen Angst vor dem Leben, ist ein Rückzug aus einer ihm fremd und in ihren (sozialen) Regeln undurchschaubar erscheinenden Welt.

Aus dem berührenden Text spricht zu uns ein Mann, der sich wie ein Fremdkörper in der Welt fühlt. Im Angesicht der Menschen ahnt er, irgendwie gehört er zu ihnen, sind sie von seiner Art, aber doch kann er nicht zu ihnen gelangen und sie nicht zu ihm, weil das „unmöglich“[7] scheint. Kafka erlebt sich ausgeschlossen, aber er hat sich auch längst selbst verschlossen und, bis auf wenige Ausnahmen, in eine Vereinzelung zurückgezogen, unter der er leidet, die er aber auch nahezu zelebriert.

Milena Jesenskás erster Impuls, mit Kafka Kontakt aufzunehmen, ist von der Lektüre seiner Texte ausgelöst. Da Kafka die Literatur als sein Wesen erfährt („Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein“, schrieb er 1913 an Felice Bauer[8]), fühlt er sich von Milena Jesenská gesehen und so wird es langsam für ihn möglich, sich ihr zu öffnen und aus der Abkapselung herauszufinden. Er fasst Vertrauen und seine Welt weitet sich. Wie ist das zu verstehen? 

Die Liebe als Mitsein und Sorge

Im Existenzial des Mitseins ist der Mensch von Grund auf und je her schon auf das Sein mit anderen Menschen eingelassen. Das Dasein als Sorge existiert als befindliches, verstehendes Sein-bei immer schon mit anderen. Das Mitsein gehört wesentlich zum Menschsein. Die Liebe als Vollzugsweise des Mitseins kennt vielfältige, eigentliche und uneigentliche Formen ihres Vollzugs. Medard Boss sieht die Liebe in ihrer wesenhaften Ausprägung vom Existenzial der Sorge her: 

Sorge will der Obertitel für jedwede Weise menschlichen Weltverhältnisses sein und umfasst sämtliche menschenmöglichen Beziehungen zu allem, was ist, zu allem Dinglichen, allem Mit- menschlichen und allem Göttlichen. Ja, gerade die Liebe entspricht der Sorge in fundamentalontologischem Sinne so vollkommen, dass alle anderen Bezugsmöglichkeiten des Menschen als deren mehr oder weniger verdeckte Abwandlungen zu verstehen sind; kann sich doch ein jegliches, das ist, nur als Geliebtes in seinem vollen Wesen entfalten.[9]

Im Humanismus-Brief schreibt Martin Heidegger sehr ähnlich: „[S]ich einer ‚Sache‘ oder einer ‚Person‘ in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen. Dieses Mögen bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken.[10]

Lieben bedeutet, einem Menschen, einer Sache das Wesen zu schenken, und weil dies ja in der Seinsweise des Mitseins vollzogen ist, wiederum vom Geliebten, von der Geliebten gegenwendig mit eigenen Wesen beschenkt zu werden. Lieben in diesem Sinne ermöglicht etwas, nämlich den anderen, die andere in seinem oder ihrem Eigenwesen sichtbar werden zu lassen. Lieben ist demnach auch ein Lassen. Dieses Lassen entspringt der Seinsgelassenheit, der wir uns im Vollzug des Liebens überantworten, und ist somit Ereignis. Das Mysterium des Liebens, nämlich die Gabe dessen, was sich entzieht und uns doch so reich beschenkt, ist also bis in seinen abgründigen Grund hinein unverfügbar und unscheinbar, aber es ist auch ein Geschehen, ein Beziehungsgeschehen, das trägt, wenn es gelingt, sich ihm anzuvertrauen und es sein zu lassen. Bei Karl Augustinus Wucherer-Huldenfeld findet sich dazu folgende Passage:

Je näher Menschen einander in personaler Verbundenheit kommen, desto mehr kann ihnen aufgehen, daß ihr Dasein füreinander (gerade in der Verschiedenheit und Andersartigkeit des je zu eigen gegebenen Ursprungseins) Verweis auf dieses ihnen gemeinsame abgründige Mysterium des Ursprungs ist [...]

Einander frei geben, sein lassen, und füreinander da sein können sie nur, wenn indem sie sich aus ihrem gemeinsamen, unverfügbaren Ursprung in ihrem Aufeinanderbezogensein in Empfang nehmen, und nur so ist eine (gleichrangige) Du-Du-Beziehung möglich.[11]

Die „Verschiedenheit“ und „Andersartigkeit“, von der hier die Rede ist, begegnet uns in Heideggers Hölderlin-Interpretationen wieder. Bei Hölderlin ist die Rede davon, dass die Ausfahrt ins Fremde jedem Heimisch-werden vorangeht. Wir werden auf die verborgene Herkunftsgegend des Eigenen aufmerksam durch die Begegnung mit dem Anderen. In der Begegnung mit dem Verschiedenartigen und Andersartigen des anderen Menschen, im echten Gespräch, wo sich beiden etwas zuspricht, das sie nicht machen, von dem sie sich tragen lassen, geht den Menschen und auch den Liebenden erst das Eigene auf, und dieses Eigene ist gelassen genug, das Andere sein zu lassen[12].

Aber es braucht auch Glück im Sinne eines Glückens. Wir können echte Begegnungen, echte Gespräche und die Liebe nicht machen. Sie alle sprechen sich uns geschicklich zu. Das ist nichts Abstraktes, denn die Person, die wir lieben und die uns liebt, uns in unserem Wesen sieht und bejaht, in unserer Andersheit annimmt und sich mit uns auseinandersetzt, weil sie eben ihr Eigenwesen nicht auf- oder preisgibt, sondern ebensolches von uns her gegenwendig erfährt, bleibt in aller Lebendigkeit mit uns ausgespannt im In-der-Welt-sein, in eine gemeinsame und doch auch je eigene Welt, die ebenso einen Zug ins Offene aufweist, wie ins Bergende, Bewahrende. Das ist die Atembewegung der Liebe, die in ihrem ereignishaften Kern ein Angesprochensein und Entsprechen ist.

Diese Liebe, die im Grunde ein Gespräch ist, kann uns öffnen, uns helfen, Einengungen unserer Weltbezüge zu überwinden. Das gilt für alle Formen der Liebe, wenn es auch in diesem Text um eine Liebes-Möglichkeit geht, die sich Mann und Frau eröffnet. Speziell die therapeutische Liebe, sie sogar ganz explizit, vermag dieses Öffnen, dieses Aufmerksam-Werden auf das Eigene zu ermöglichen. Patienten oder Patientinnen erfahren Heilung, indem sie sich entwickeln, mehr und mehr zu dem und der werden, die sie im Grunde sind. Die Daseinsanalyse ist ein öffnendes Verfahren, ein Sichtbarwerden-lassen, Ins-Erscheinen-kommen-lassen der Welt des Patienten, das heißt seines Wesens, welches nicht von seinem In-der-Welt-sein als Erscheinungsstätte getrennt gesehen werden kann. Es geht um eine Weitung dieser Welt und der sich in ihr und nach ihr ausrichtenden Bezüge, es geht um Befreiung. Medard Boss schreibt:

Der echte psychotherapeutische Eros hat sich […] durch eine sonst nie geübte Selbstlosigkeit, Selbstzucht und Ehrfurcht vor dem Eigenwesen des Partners auszuzeichnen, die sich weder durch ein entgegenkommendes noch durch eine gleichgültiges noch durch ein feindseliges Verhalten des Analysanden in ihrer Stabilität und Dauerhaftigkeit beirren lässt.“[13]

Dies lässt die Patientinnen und Patienten langsam das Vertrauen gewinnen, sich der Welt und damit dem Leben wieder langsam zu öffnen, sich zu weiten und im Schutz des therapeutischen Proberaums verschüttete Regungen und Strebungen zu entdecken, zu erproben, sich anzueignen und damit zu einer freieren Existenzweise zu finden.[14]

Die Liebe zwischen Mann und Frau ist nicht von anderer Natur, aber sie wird und soll einen solchen therapeutischen Eros nicht aufbringen. Dennoch geschieht ebenso eine Öffnung, ein Ergriffen- und Gepacktsein von dem anderen Menschen und seiner Welt und das, wenn es glückt, gegenseitig. In dieser Zuwendung zueinander erfahren wir Aufmerksamkeit, werden gesehen, wollen uns zeigen, sind für gewisse Zeit geradezu berauscht. Solche Liebe vermag uns aufzureißen und zu wandeln, aber sie ist auch ein Risiko, denn Befreiung ist Befreiung zum Ganzen, mit allen seinen Möglichkeiten des Gelingens, aber auch des Scheiterns.

Franz Kafka und Milena Jesenská – die Geschichte einer Öffnung

Eine solche Liebe, die sich nicht in einem therapeutischen Schonraum, sondern in der ganzen Ausgesetztheit menschlicher Existenz ereignete, war wohl jene zwischen Franz Kafka und Milena Jesenská, die hier nun nachgezeichnet werden soll. Dass sie sich hauptsächlich in Form von Briefen austrug, kommt wohl nicht von ungefähr, denn das Schreiben war Franz Kafkas vertrauteste Form des In-der-Welt-seins. Über das Schreiben war es sicherlich noch am ehesten zu erreichen und in ihm kam er, soweit er ihm überhaupt möglich war, ganz zum Vorschein. Das Verhaltene des brieflichen Austausches, die zeitliche Verzögerung, das Monologische, das ganz auf sich gestellte und doch auf den Anderen bezogene Sein beim Verfassen eines Briefes, kam ihm entgegen. Milena Jesenská scheint ihm sogar einmal kritisch geschrieben zu haben, in seinen Briefen fände sich „nicht ein Wort, das nicht sehr wohlerwogen wäre“[15].

In Milena Jesenskás Briefen, eröffnete sich Kafka ein Raum, in dem er ganz zum Vorschein kommen konnte. Sein Wesen zeigte sich klarer, freier und in ihm bisher nicht gekannter Weise. So unterschiedlich die beiden waren, voneinander angesprochen, überließen sie sich ereignishaft dem Gespräch, auch wenn dies weitgehend in Form von Briefen geschah. Milena Jesenská selbst war ein Mensch, der einsam war und bedürftig. Auch sie brauchte Kafkas Zuwendung und Verstehen. Da wir aber nur seine Briefe kennen, lässt sich darüber wenig Genaueres sagen. Was in seinen Briefen aber deutlich wird ist, dass unter Milena Jesenskás klarem, unbestechlichem, oft kritischem, aber stets zugewandtem Blick Kafka mehr und mehr sein Wesen zur Sprache kommen zu lassen vermochte; ja er konnte sogar zeitweise seine Angst überwinden! Trotz tiefer Erschütterung über das, was hier geschah, fasste er doch zunehmend Vertrauen. Das mag ihm wie ein Wunder erschienen sein – und es war auch ein Wunder!

Franz Kafka ist, als er an Milena Jesenská zu schreiben beginnt, fast 37 Jahre alt (nicht 38, wie er in den Briefen immer wieder schreibt!), er ist Doktor der Rechtswissenschaften, arbeitet bei der Arbeiterunfallversicherung in Prag, und er ist ein Schriftsteller, der schon Einiges veröffentlicht hat. Er leidet seit fast drei Jahren unter Tuberkulose. Er ist abgemagert, geschwächt, und hat sich entschlossen, einen Kuraufenthalt im Süden-verheißenden Meran zu verbringen.

Es ist das Frühjahr 1920, noch nicht lange nach Ende des Ersten Weltkriegs. Südtirol gehört seit weniger als einem Jahr zu Italien, es sind noch überall die Folgen des Krieges zu spüren. Das Essen ist rationiert, und in der Stadt sind viele Hotels und andere Einrichtungen geschlossen. Nachdem er zuerst im Grandhotel Emma abgestiegen ist, entschließt er sich sehr schnell – und typisch für ihn – einen billigeren und ruhigeren Aufenthaltsort zu suchen. Nach einigen Tagen des Umhergehens, findet er die Pension Ottoburg (unweit von hier) im Stadtteil Untermais. Hier gefällt es ihm einigermaßen, und er bezieht ein Zimmer mit Balkon. Die Wirtin ist sogar bereit, vegetarisch für ihn zu kochen[16]. – Um den 8. April schreibt er den ersten überlieferten Brief an Milena Jesenská:

Liebe Frau Milena 

eben hat der zwei Tage und eine Nacht dauernde Regen aufgehört, wahrscheinlich zwar nur vorübergehend, immerhin eine [sic] Ereignis wert gefeiert zu werden und das tue ich indem ich Ihnen schreibe.

[…] Ich lebe hier recht gut, mehr Sorgfalt könnte der sterbliche Leib kaum ertragen, der Balkon meines Zimmers ist in einen Garten eingesenkt, umwachsen, überwachsen von blühenden Sträuchern (merkwürdig ist die Vegetation hier, bei einem Wetter, bei dem in Prag fast die Pfützen gefrieren, öffnen sich vor meinem Balkon langsam die Blüten), dabei voll der Sonne ausgesetzt (oder allerdings dem tief bewölkten Himmel, wie seit fast einer Woche schon), Eidechsen und Vögel, ungleiche Paare, besuchen mich […]“[17]

Wer ist nun diese Milena Jesenská, die jetzt eigentlich Pollak heißt und an die sich der Brief richtet? Im vergangenen Herbst hat sie ihm geschrieben, ob sie seine Erzählung „Der Heizer“ ins Tschechische übersetzen dürfe? Es kam damals auch zu einem kurzen Treffen in Prag. Jesenská, die mit ihrem Ehemann, Ernst Pollak, in Wien lebt, ist 13 Jahre jünger als Kafka, und kommt aus einem wohlhabenden, bürgerlichen Haus. Ihr Vater, Jan Jesensky, ist ein berühmter Prager Zahnarzt und Kieferchirurg, Professor an der Universität. Ihm werden eine National-Tschechische Gesinnung und antisemitische Tendenzen nachgesagt.[18] Milena, sein einziges Kind (der jüngere Bruder Milenas ist, ebenso wie ihre Mutter, früh verstorben), hat er am berühmten und als sehr fortschrittlich geltenden Mädchen-Gymnasium Minerva eingeschrieben. Nach dem Abitur beginnt sie zuerst Medizin, drei Semester später dann aber Musikwissenschaften zu studieren. Schließlich bricht sie ab.

Sie ist lebhaft, unkonventionell und direkt, immer wieder für einen Skandal gut. Als die noch Minderjährige mit dem von ihrem Vater heftig abgelehnten deutsch-jüdischen Fremdsprachen-Korrespondenten und Kaffeehaus-Intellektuellen Ernst Pollak eine Liaison beginnt, sorgt der Vater dafür, dass sie in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wird. Doch es nützt alles nichts, als sie volljährig wird, muss sie dort entlassen werden, heiratet Pollak und geht mit ihm nach Wien. Die Ehe ist unglücklich, Milena Pollak ist auf sich selbst gestellt, muss Geld verdienen, manchmal sogar mit Kofferschleppen am Westbahnhof, und ihr Mann hat ständig Geliebte, die er sogar mit nach Hause bringt. Sie ist im Grunde ebenso einsam wie Kafka, aber wilder, lebendiger und unkontrollierter. Sie beginnt ihre Eindrücke der Stadt und der Menschen aufzuschreiben und nach Prag zu schicken. Dort ist man begeistert, am 30. November 1919 erscheint ihr erstes Feuilleton. Sie bekommt von nun an, was sie tief beglückt, ein Honorar für ihre Texte, von denen etwa drei im Monat in der Prager Zeitschrift Tribuna veröffentlicht werden. Zudem fängt sie an, sich – da ihr Deutsch schon erhebliche Fortschritte gemacht hat – dem literarischen Übersetzen zuzuwenden.[19]

Als Kafka aus Meran zu schreiben beginnt und nach anfänglichen Zögern Milena Jesenskás – er muss sie mehrmals anschreiben, ehe sie antwortet – beginnt der Briefwechsel Fahrt aufzunehmen. Bald fliegen die Briefe hin und her, oft mehrere am Tag. Kafka schickt seine Briefe auf Wunsch postlagernd nach Wien, meist an den Decknamen Kramer.[20] Jesenskás Briefe an ihn – es waren die einzigen Liebesbriefe, die er aufbewahrt hat – sind nach Kafkas Tod leider verlorengegangen. Willy Haas, der erste Herausgeber der so genannten „Briefe an Milena“, ist mit beiden gut bekannt gewesen. Er erinnert sich an Milena Jesenská wie folgt:

Sie mutete manchmal wie eine Aristokratin aus dem 16. oder 17. Jahrhundert an, einen Charakter wie ihn Stendhal aus den alten italienischen Chroniken genommen und in seine eigenen Romane versetzt hat, die Herzogin von Sanseverina oder Mathilde de la Mole, leidenschaftlich, kühn, kalt und klug in ihren Entschlüssen, aber bedenkenlos in der Wahl ihrer Mittel, wenn es sich um eine Forderung ihrer Leidenschaft handelte – und um eine solche handelte es sich in ihrer Jugend wohl fast immer.[21]

Es beginnt wohlwollend freundlich, im Plauderton. Kafka schildert ihr, wie oben schon zitiert, seinen Balkon. Er schreibt auch über Meran, und er erwähnt ihre bisher einzige persönliche Begegnung in Prag im vergangenen Oktober:

Es fällt mir ein, daß ich mich an Ihr Gesicht eigentlich in keiner bestimmten Einzelheit erinnern kann. Nur wie Sie zwischen den Kaffeehaustischen weggiengen, Ihre Gestalt, Ihr Kleid, das sehe ich noch.[22]

Sie scheint, nach einigen wenigen weiteren Briefen Kafkas, deren Wärme und Zugewandtheit ihr sicher gut tut, zutraulicher zu werden, berichtet von ihrem Leben in Wien, den Härten dieses Lebens, von einer Erkrankung. Kafka hat bereits die Geschichte seiner Tuberkulose ausführlich erzählt. Er ist sehr an ihrem Leben interessiert, aber auch besorgt, als er erfährt, sie hätte ebenfalls ein Lungenleiden und außerdem oft nicht einmal genug zu Essen. Schon zwei Briefe danach schreibt Kafka:

Und was werden Sie tun? Es ist ja wahrscheinlich ein Nichts, wenn man Sie ein wenig behütet. Daß man Sie ein wenig behüten muß, muß doch jeder einsehn, der Sie lieb hat, da muß doch alles andere schweigen.“ (131)

Im nächsten Brief erfahren wir, Kafka habe jetzt auch die Übersetzung seiner Erzählung „Der Heizer“ bekommen. Er schreibt, das Heft rühre, beschäme, mache ihn traurig und freue ihn. (131)

Kafka unterschreibt nun die Briefe mit seinem Vornamen und dem ersten Buchstaben seines Nachnamens, ohne Abstand, in einem Zug. Milena Jesenská liest „F r a n k“. So wird sie ihn fortan immer nennen.

Schon im nächsten Brief, Ende April, zeigt sich, wie nahe es Kafka geht, dass sie seine Erzählung ins Tschechische übersetzt hat und vor allem wie sie das gemacht hat:

Im übrigen ist es mir unbegreiflich, dass Sie diese Mühe auf sich genommen haben, und tief rührend, mit welcher Treue Sie es getan haben. Sätzchen auf und ab, einer Treue, deren Möglichkeit und schöne natürliche Berechtigung, mit der Sie sie üben, ich in der tschechischen Sprache nicht vermutet habe. So nahe deutsch und tschechisch?“ (132) Und wenig später, im selben Brief:

Gewiss verstehe ich tschechisch. Schon einigemal wollte ich schreiben, warum Sie nicht einmal tschechisch schreiben. Nicht etwa deshalb, weil sie das Deutsche nicht beherrschten. Sie beherrschen es meistens erstaunlich und wenn sie es einmal nicht beherrschen, beugt es sich vor Ihnen freiwillig, das ist dann besonders schön […] und tschechisch wollte ich von Ihnen lesen, weil Sie ihm doch angehören, weil doch nur dort die ganze Milena ist (die Übersetzung bestätigt es) […] Also Tschechisch bitte!“ (132f.)

Jetzt schreibt Milena Jesenská ihm in ihrer Muttersprache, und er antwortet auf Deutsch. In einem weiteren Brief, im Mai 1920 erwähnt er noch einmal die Qualität der Übersetzung:

„[…] die wie selbstverständliche Wahrheit der Übersetzung ist mir, wenn ich das Selbstverständliche von mir abschüttle immer wieder erstaunlich, kaum ein Mißverständnis, das wäre ja noch gar nicht so viel, aber immer kräftiges und entschlossenes Verstehen.“ (145)

Auch im nächsten Brief, ebenfalls im Mai 1920, geht er auf Milena Jesenskás Sprache ein, und zum ersten Mal spüren wir, wie sehr das von ihr Geschriebene ihm nahe kommt:

Liebe Frau Milena, […]  ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das tschechische ist mir viel herzlicher, deshalb zerreißt ihr Brief auch manche Unsicherheiten, ich sehe Sie deutlicher, die Bewegungen des Körpers, der Hände, so schnell, so entschlossen, es ist fast eine Begegnung allerdings, wenn ich dann die Augen bis zu Ihrem Gesicht heben will, bricht dann im Verlauf des Briefes – was für eine Geschichte! – Feuer aus und ich sehe nichts als Feuer.“ (134)

Milena Jesenská scheint nichts zu beschönigen, wenn sie über ihre Situation schreibt, und Kafka, der souveräne Briefeschreiber, merkt, da ist jemand, der anspruchsvoll ist und ihm intellektuell gewachsen zu sein scheint. Immer wieder finden sich in den Briefen Stellen, wo er seine Erschütterung ausdrückt oder versucht, sie zu beruhigen, bzw. Missverstandenes richtig zu stellen. Manche Briefe erfährt er so intensiv, dass er sie nicht lesen kann. Er muss sie zuerst beiseite legen. Es gibt offenbar auch Anklagendes, Richterliches darin (146). Milena Jesenská schont ihn nicht, kritisiert Formulierungen, seine Wortwahl, zum Beispiel offenbar, dass er ihre Übersetzung „treu“ nennt. Er nimmt es diesmal mit Humor:

Zanken Sie mich nur wegen des ‚treu‘ aus. Sie können alles, aber zanken können Sie vielleicht am besten. Ich wollte Ihr Schüler sein und immerfort Fehler machen, nur um immerfort von Ihnen ausgezankt zu werden zu dürfen.“ (151f.)

Schnell ist es nicht mehr möglich, allein mit freundlicher Eloquenz oder dem Beschwören von Nähe stimmig in Beziehung zu Milena Jesenská zu bleiben. Sie verlangt, dass er sich zeigt, nicht ausweicht, nicht herumredet. Sie rüttelt an ihm, fordert, hinterfragt, gibt sich mit vielen Antworten nicht zufrieden, nennt manche seiner Briefe sogar inhaltsleer. Seine jahrzehntelang eingeübte Verschlossenheit beginnt erste Sprünge zu bekommen. An Max Brod schreibt er im Mai:

Mir ginge es gesundheitlich gut, wenn ich schlafen könnte, an Gewicht habe ich zwar zugenommen, aber die Schlaflosigkeit fällt mir besonders in letzter Zeit unerträglich dazwischen. Sie hat verschiedene Gründe wohl, einer ist vielleicht mein Briefwechsel mit Wien. Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe, ein Feuer übrigens das trotz allem nur für ihn brennt [gemeint ist ihr Ehemann; Anm. d. Verf.]. Dabei äußerst zart, mutig, klug und alles wirft sie in das Opfer hinein, oder hat es, wenn man will, durch das Opfer erworben.“ (142)

Dass Milena Jesenská verheiratet ist und trotz der schwierigen und schmerzhaften Beziehung zu Ernst Pollak sehr an ihm hängt, scheint Kafkas Begeisterung nicht zu dämpfen. Vielleicht erlebt er sich dadurch auch vor den Erfordernissen einer real gelebten Beziehung ein Stück in Sicherheit.

Franz Kafka sehnt sich nach Briefen:

Was meinen Sie? kann ich bis Sonntag noch einen Brief bekommen? Möglich wäre es schon. Aber es ist unsinnig, diese Lust an Briefen. Genügt nicht ein einziger, genügt nicht ein Wissen? Gewiß genügt es, aber trotzdem lehnt man sich weit zurück und trinkt die Briefe und weiß nichts als das man nicht aufhören will zu trinken. Erklären Sie das, Milena, Lehrerin!“ (157)

Milena Jesenská schlägt nun vor, er könne, wenn er nach Prag zurückreise, doch über Wien fahren. Das erschreckt ihn zutiefst. Nun geht es nicht mehr nur um Briefe, sondern die Möglichkeit einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht steht im Raum, einer Begegnung mit dieser Frau, die ihn so erschüttert, die aber auch verheiratet ist. Er schreibt am 31. Mai:

Ich will nicht (Milena helfen sie mir, verstehen Sie mehr als ich sage!), ich will nicht (das ist kein Stottern) nach Wien kommen, weil ich die Anstrengung geistig nicht aushalten würde. Ich bin geistig krank, die Lungenkrankheit ist nur ein Aus-den-Ufern-treten der geistigen Krankheit. Ich bin so krank, seit den 4, 5 Jahren meiner ersten zwei Verlobungen.“ (154)

Hier meint Kafka seine zweimalige Verlobte Felice Bauer, der er in fünf Jahren ungeheuer viele Briefe geschrieben hatte, und von der sich endgültig trennte, als seine Tuberkulose im Sommer 1917 ausbrach. Kafka ist aber auch jetzt wieder verlobt, allerdings ohne Aussicht auf Heirat, wie er schreibt. Den ersten Hochzeitstermin hat er im vergangenen Herbst abgesagt. Diese Verlobte, Julie Wohryzek, die er Milena gegenüber stets „das Mädchen“ nennt, wartet auf ihn in Karlsbad. Er telegrafiert ihr, dass er nicht kommen wird.

Milena Jesenskás Briefe ergreifen ihn tief. Er fühlt sich gesehen und verstanden, wie wahrscheinlich niemals zuvor von einem Menschen. Er beginnt sich zu öffnen.

Es ist so schön, dass ich Ihren Brief bekommen habe, Ihnen mit dem schlaflosen Gehirn antworten muß. Ich weiß nichts zu schreiben, ich gehe nur hier zwischen den Zeilen herum, unter dem Licht Ihrer Augen, im Atem Ihres Mundes wie in einem schönen glücklichen Tag, der schön und glücklich bleibt […]“ (159)

Am 2. Juni schreibt er:

Die zwei Briefe kamen gemeinsam, mittag; sie sind nicht zum lesen da, sondern um ausgebreitet zu werden, das Gesicht in sie zu legen und den Verstand zu verlieren. 

[…] Wie wäre das? Und wo sind die Weltgesetze und die ganze Polizei des Himmels. Du bist 38 Jahre alt und so müde wie man durch Alter überhaupt nicht werden kann. Oder richtiger: Du bist gar nicht müde, sondern unruhig, sondern fürchtest Dich nur einen Schritt zu tun auf dieser von Fuß-Fallen strotzenden Erde, hast deshalb eigentlich immer gleichzeitig beide Füße in der Luft, bist nicht müde, sondern fürchtest Dich vor der ungeheuren Müdigkeit, die dieser ungeheuren Unruhe folgen wird (Du bist doch Jude und weißt, was Angst ist).“ (166f.)

Und später im selben Brief:

Und nun ruft dich Milena, mit einer Stimme, die Dir gleichzeitig eindringt in Verstand und Herz. Natürlich Milena kennt Dich nicht, ein paar Geschichten und Briefe haben sie verblendet: sie ist wie das Meer, stark wie das Meer mit seinen Wassermassen und doch im Mißverständnis mit all seiner Kraft hinstürzend, wenn der tote und vor allem ferne Mond es will.“ (166f.) 

Am 3. Juni dann:

Bedenken Sie auch Milena, wie ich zu Ihnen komme, welche 38jährige Reise hinter mir liegt (und da ich Jude bin, eine noch so viel längere) und wenn ich an einer scheinbar zufälligen Wegdrehung Sie sehe, die ich noch nie zu sehen erwartet habe und jetzt so spät erst recht nicht, dann, Milena, kann ich nicht schreien, es schreit auch nichts in mir, ich sage auch nicht 1000 Narrheiten, sie sind nicht in mir [...] und daß ich knie erfahre ich vielleicht erst dadurch, dass ich ganz nahe vor meinen Augen Ihre Füße sehe und sie streichle.“ (170)

Und weiter unten:

Ich bin auf einem so gefährlichen Weg, Milena. Sie stehn fest bei einem Baum, jung, schön, Ihre Augen strahlen das Leid der Welt nieder. Man spielt škatule škatule hejbejte se [Bäumchen, Bäumchen wechsle dich; Anm. d. Verf.], ich schleiche im Schatten von einem Baum zum andern, ich bin mitten auf dem Weg. Sie rufen mir zu, machen mich auf Gefahren aufmerksam, wollen mir Mut geben, entsetzen sich über meinen unsicheren Schritt, erinnern mich (mich!) an den Ernst des Spiels – ich kann nicht, ich falle um, ich liege schon. Ich kann nicht gleichzeitig hören auf die schrecklichen Stimmen des Inneren und auch auf Sie, aber ich kann hören auf jene und es Ihnen vertrauen, Ihnen wie niemandem sonst auf der Welt.“ (171)

Milena Jesenská ist existenziell so wichtig für ihn geworden, dass er der ungeheuren, neuen Möglichkeit, die sich durch sie in seinem Leben auftut, nicht mehr widerstehen will. Aber er hat auch große Angst, dem nicht gewachsen zu sein. Es ist ein Taumel ohnegleichen, zu dem Kafkas Welt nun abhebt. Am 11. Juni 1920 dann das erste „Du“:

Gewiss, auch der Dienstagbrief hat seinen Stachel, und er schneidet sich seinen Weg durch den Leib, aber Du führst ihn, und was wäre – dies ist natürlich nur die Wahrheit eines Augenblicks, eines Glück- und Schmerz-zitternden Augenblicks – was wäre von dir zu ertragen schwer?“ (176)

Und dann:

Ich nehme den Brief noch einmal aus dem Umschlag, hier ist Platz. Bitte sag mir einmal wieder – nicht immer, das will ich gar nicht – bitte sag mir einmal Du.“ (177)

Meran, 12. Juni 1920:

Diese Kreuz- und Quer-Briefe müssen aufhören, Milena, die machen uns toll, man weiß nicht, was man geschrieben hat, worauf geantwortet wird und zittert immer, wie es auch sei. […]

Für mich ist es ja etwas Ungeheuerliches, was geschieht, meine Welt stürzt ein, meine Welt baut sich auf, sieh zu, wie Du (dieses Du bin ich) dabei bestehst. Um das Stürzen klage ich nicht, sie war im Stürzen, über ihr Sich-aufbauen klage ich, über meine schwachen Kräfte klage ich, über das Geboren-werden klage ich, über das Licht der Sonne klage ich.

Wie werden wir weiterleben? Wenn du zu meinen Antwortbriefen ‚Ja‘ sagst darfst du in Wien nicht weiterleben, das ist unmöglich.“ (179)

Noch über zwei weitere Wochen vergehen, ehe Kafka sich, nach langem Hin und Her, tatsächlich entschließt, über Wien nach Prag zu fahren. Milena und er verbringen vier Tage lang viel Zeit miteinander. Diese Tage gehören vielleicht zu den glücklichsten seines Lebens. Dennoch gelingt es den beiden nicht, ihre Liebe dauerhaft in eine auch außerhalb von Briefen gelebte Beziehung zu führen. Anfang des Jahres 1921, bereits in der Hohen Tatra auf Kur, beendet Kafka den Briefwechsel, indem er sie bittet, ihm auf keinen Fall mehr zu schreiben. Sie bleiben, nach anfänglicher Kontaktpause, die etwa dreieinhalb Jahre, welche Kafka noch zu leben hat, in Verbindung. Er vertraut ihr sogar seine Tagebücher und einige Manuskripte an. Ob Milena Jesenská ihn in seinen letzten Wochen noch in Kierling bei Wien besucht hat, ist nicht gesichert, scheint aber doch möglich, weil sie selbst es 1938 in einem Brief an Willi Schlamm schreibt.[23] Anfang Juni 1924, wenige Tage nach Franz Kafkas Tod, erscheint ihr Nachruf auf ihn in der Tschechischen „Národní lysti“. Hier lesen wir:

Er war scheu, ängstlich, sanft und gut, doch die Bücher, die er schrieb, sind grausam und schmerzhaft […] Er war zu hellsichtig, zu weise, um leben zu können, zu schwach, um zu kämpfen, schwach wie es edle schöne Menschen sind, die sich nicht darauf verstehen, den Kampf mit ihrer Angst vor Unverständnis, Ungüte, intellektueller Lüge aufzunehmen, da sie im voraus um ihre Hilflosigkeit wissen und im Unterliegen den Sieger beschämen. Er kannte die Menschen, wie sie nur ein Mensch von großer nervöser Sensibilität kennen kann, einer, der einsam ist und fast prophetisch den anderen am Aufblitzen der Augen erkennt. Er kannte die Welt auf ungewöhnliche und tiefe Art, selbst war er eine ungewöhnliche und tiefe Welt […] Er war ein Künstler und Mensch von derart feinfühligem Gewissen, daß er auch dorthin hörte, wo andere, taub, sich in Sicherheit wähnen.[24]

Milena Jesenská selbst kommt, nach einem bewegten Leben, am 17. Mai 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück ums Leben.[25]

 

Vom Öffnen und Schließen

 Auch eine Liebe, die nicht in eine Partnerschaft mündet, kann uns öffnen und wandeln. Am Beispiel Franz Kafkas sehen wir, dass selbst jemand, der eigentlich mit seinem Leben schon abgeschlossen zu haben glaubt, sich doch noch einmal der Fülle des Daseins öffnen kann, wenn eine Begegnung geschieht, die ihn packt und in der er erfährt, gesehen und in der Tiefe verstanden zu werden. In dieser Öffnung wird es möglich, auch Widerstände zu überwinden. Einschränkungen, Verstellungen und Unauthentisches können in Frage gestellt und erkannt werden. Im Raum, den der andere Mensch (freilich in diesem Falle nicht abstinent) eröffnet, wird es möglich, mehr zu sich selbst zu kommen. Auch wenn viele Fragen offen bleiben, so ist doch Kafkas außergewöhnliche sprachliche Ausdruckskraft eine wertvolle Quelle, solch einen Öffnungsprozess nachvollziehbar werden zu lassen. Mag auch das Ende dieser Liebesgeschichte nicht glücklich gewesen sein (aber wer möchte das beurteilen?), so bleiben uns doch seine berührenden Briefe, deren Lektüre uns auch 100 Jahre nach ihrem Entstehen zu denken gibt, die uns weiterhin ansprechen, packen und wandeln können.   

 

[1] Dieser – erweiterte und überarbeitete – Text basiert auf einem Vortrag mit dem Titel „Vom Fremdsein und Lieben“, der sich mit den Briefen von Franz Kafka aus Meran an Milena Jesenská beschäftigte und den ich auf der ÖDAI-Tagung in Meran am 28. September 2019 hielt.

[2] Kafka: Briefe 1918–1920 (im Folgenden als „Briefe“ angegeben).

[3] Kafka: Briefe, 168.

[4] Kafka: Tagebücher, 562.

[5] Kafka: Brief an den Vater, 39.

[6] Kafka: Tagebücher, 853.

[7] Ebd.

[8] Kafka: Briefe an Felice, 444.

[9] Boss: Einführung, 67.

[10] Heidegger: HB (GA 9), 316.

[11] Wucherer: Ursprüngliche Erfahrung, 456.

[12] Helting: Dimensionen, 162.

[13] Boss: Lebensangst, 58f.

[14] Ebd. 59.

[15] Kafka: Briefe, 170, in ebd., 41 (im Originalbrief auf Tschechisch, Übersetzung vermutlich durch Willy Haas, den Hg. der Erstausgabe).

[16] Stach: Kafka/Erkenntnis, 340ff.

[17] Kafka: Briefe, 119f. Alle hier wiedergegebenen Zitate Kafkas übernehmen seine eigenwillige Orthographie gemäß dem Text der »Kritischen Ausgabe« seiner Werke.

[18] Wagnerová: Jesenská/Biografie, 24, und Alt: Kafka/Biografie, 538.

[19] Wagnerová: Jesenská/Biografie, 7ff.

[20] Kafka: Briefe, 221.

[21] Haas, zit. in Kafka: Briefe an Milena XI.

[22] Kafka: Briefe, 123. Im Folgenden stehen die Seitenverweise auf die jeweilige Briefstelle im Text direkt nach dem Zitat.

[23] Milena Jesenská: Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang. Die Briefe von Milena Jesenská, 70 (Brief an W. Schlamm vom 8. 8. 1938).

[24] Jesenská in Kafka: Briefe an Milena, 379ff (Übersetzung aus dem Tschechischen: Josef Čermák).

[25] Wagnerová: Jesenská/Biografie, 186f.

 

Literatur

 Alt, Peter André: Franz Kafka – Der ewige Sohn. Biografie. 3.durchgesehene Auflage, Verlag C.H. Beck: München

Boss, Medard: Einführung in die psychosomatische Medizin. Verlag Hans Huber: Bern/Stuttgart 1954

Boss, Medard: Lebensangst, Schuldgefühle und psychotherapeutische Befreiung. Verlag Hans Huber: Bern 1962

Heidegger, Martin: Brief über den „Humanismus“ (HB), in ders.: Wegmarken. Gesamtausgabe Band 9 (GA 9), Vittorio Klostermann: Frankfurt am Main 1976, 313–364

Helting, Holger: Einführung in die philosophischen Dimensionen der psychotherapeutischen Daseinsanalyse, Shaker Verlag: Aachen 1999

Jesenská, Milena: Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang. Die Briefe von Milena (Hg. Alena Wagnerová), Fischer TB Verlag: Frankfurt am Main 2005

Jesenská, Milena: Nachruf auf Franz Kafka, in Kafka, Franz: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe, Fischer TB Verlag: Frankfurt am Main 1995, 379–381

 Kafka, Franz: Brief an den Vater. Originalfassung, Fischer TB Verlag: Frankfurt am Main 1999

 Kafka, Franz: Tagebücher 1914–1923. Originalfassung (Hg. Hans-Gerd Koch), Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008

 Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Einzelausgabe (Hg. Erich Keller / Jürgen Born), Fischer TB Verlag: Frankfurt am Main 2009

 Kafka, Franz: Briefe 1918–1920. Kritische Ausgabe (Hg. Hans-Gerd Koch), S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main 2013

 Stach, Reiner: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Fischer TB Verlag: Frankfurt am Main 2011

 Wagnerová, Alena: Milena Jesenská. Biografie, Fischer TB Verlag: Frankfurt am Main 2006

 Wucherer-Huldenfeld, Karl Augustinus: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Band 1, Böhlau: Wien 1994

 
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